Die Kapelle am Ende der Welt

Geschafft! Sie hatte die Wahl zum Ortsvorstand in der Tasche, der Anruf war noch vor dem Frühstück gekommen. Das war der Weg in den Landtag, nur noch ein paar Jahre Arbeit vor Ort, und sie wusste schon, in welchem Bereich sie sich engagieren würde. Sie küsste ihre kleine Lena auf die Stirn und flüsterte ihr in die, vor Aufregung um das bevorstehende Wiedersehen mit ihren Freundinnen im Kindergarten, rot geschwitzten Mauseöhrchen. “Warte nur ein Weilchen, liebe Lena, dann sitzt Mama im Landtag und wir beide werden die Welt bereisen”. Ferne Länder erforschen und fremde Kulturen kennenlernen, das war ihr großer Traum, schon von Kind an. Und mit dem Geld, das sie im Landtag verdienen würde, würde sie endlich die Möglichkeit dazu haben. Als alleinerziehende Mutter könnte sie in allen Ferien in Elternzeit gehen, und zusammen mit Lena die Welt erkunden. Dr. Sylvia Peperkorn, MdL – wie es sich schon anhörte. Sylvia hätte die ganze Zeit jauchzen können vor Freude, und gleich nachdem sie Lena im Kindergarten abgegeben hatte, rief sie den Parteisekretär an, um mit ihm die nächsten Aktionen im Flüchtlingsheim zu besprechen.

Alles war dunkel um ihn. Mbeke erwachte aus einer tiefen Ohnmacht. Wo bin ich nur, dachte er. Und wie konnte all das geschehen? Gestern noch war der Bus gekommen, wie es der Reiseführer versprochen hatte. Stolz hatte er beim Einsteigen das Victory-Zeichen gemacht – wie hatten sie ihn ausgelacht, als er gesagt hatte, er würde nach Europa gehen. “Dein letztes Geld verpulverst du an diese Betrüger, du wirst schon sehen, da kommt kein Bus, nur dein Geld ist weg.” Aber der Bus kam. Nachdem sie 12 Stunden gefahren waren, hielt der Bus mitten in der Wüste an einer verlassenen Scheune. Raus, hieß es, und die Schrotflinten des Busfahrers und seines Assistenten machten daraus einen unmissverständlichen Befehl. Bald nachdem der Bus in der Ferne verschwunden war, vernahmen sie das tiefe Grollen eines schweren LKW-Motors. Ein Transporter kam heran, und von der Ladefläche sprang ein Trupp finsterer Gestalten, der die Flüchtlinge umringte und sofort mit Peitschen auf sie einzuprügeln begann.

“Sie hat es wirklich drauf, findest du nicht?” Malte vom Tagblatt stupste seinen Kollegen an. “Du täuscht dich”, sagte der. “Ich glaube, sie weiß wirklich, wovon sie spricht und es ist ihr tatsächlich ehrlich damit. Sie weiß, wie sehr diese Menschen leiden, und sie will ihnen helfen. Das ist nicht nur Show, oder einstudierte Pose, sie will sich wirklich für diese Menschen einsetzen. Und ich finde, sie hat recht. Überleg mal, wie schafft man es eigentlich, auf dem selben Planeten mit Leuten zu leben, die ein so entsetzliches Schicksal erleiden müssen? Und vor allem, sogar mit den Leuten, die solch entsetzliche Schicksale bereiten? Manchmal frage ich mich, warum ich mich nicht schon längst erschossen habe, es ist so unerträglich, hier zu sein und woanders ist diese grausame und unbeschreibliche Qual.” Malte verstummte. So hatte er sich die Sache noch nie angesehen. Er hatte immer geglaubt, Dr. Peperkorn würde die ganze Nummer mit ihrem Mitleid für die Flüchtlinge nur vorspielen, weil sie auf diesem Ticket in den Landtag einziehen wollte. Aber jetzt, als ihm mit den Worten seines Kollegen zum ersten Mal in Wahrheit klar wurde, was die Berichte von Sklavenmärkten und Organhändlern auf den Routen der Flüchtlinge tatsächlich bedeuteten, da gewann er einen anderen Blick auf den Auftritt der Politikerin und ihren flammenden Appell an die Menschlichkeit und Nächstenliebe.

Tagelang hatte man Mbeke und seine Kameraden in ein dunkles Verlies gesperrt, und sie durften nur hinaus, um von den Männern des Sklavenhändlers gefoltert zu werden. Man griff dabei meist zu Elektroschocks, denn die “Ware” sollte zwar seelisch gebrochen, aber körperlich intakt bleiben. Schließlich, mit einem gebrochenen Bein schleppt niemand einen Zementsack, egal wie sehr man auf ihn einschlägt. Aber ob in der Seele des Trägers die Hölle aufgegangen, und Vernunft und Liebe gestorben wären, das ist dem Zementsack egal. Und so verrichteten die Folterknechte routiniert ihr Werk. Bis zur Auktion in ein paar Tagen würden alle diese Männer und Frauen lächelnd vor den Käufern stehen müssen. Denn wer einen aufsässigen Eindruck machte, wurde von niemandem gekauft, und das wäre ein finanzieller Verlust, denn man hatte den Flüchtlingsschlepper im Voraus bezahlen müssen und ohne Garantien, aber es war auch so anstrengend und lästig, die Überreste verschwinden zu lassen.

Mbeke begriff sehr schnell, und auf einmal war er den anderen Dorfbewohnern dankbar für ihre Warnungen vor den Betrügern. Er ergab sich sofort in sein Schicksal, und so dauerte sein Martyrium unter den Elektroden der grinsenden Schläger kürzer, und es blieb ihm das schlimmste Schicksal der meisten seiner Mitgefangenen erspart. Man hatte Mbeke die Manneskraft belassen, aber viel wichtiger noch, in seiner Seele glomm noch immer ein Funken der Freiheit und der Sehnsucht nach dem Glück.

Mbeke wurde für 400 Dollar verkauft. Wo waren die 2500 Dollar hin, die Mbeke an den Reiseführer bezahlt hatte? Aber Mbeke hatte keine Tränen mehr. Das Leben ist ungerecht, Gott ist ungerecht, und alle Menschen sind böse Tiere, so dachte er nun. Doch es kam der Tag, da blitzte auch für ihn wieder die Sonne durch die Wolken. Zuerst war da dieser Jeep, und die bleiche Frau mit einem Fotoapparat, und dann kamen sie wieder mit der Polizei. Mbeke erhielt sogar eine Entschädigung aus dem beschlagnahmten Vermögen des Plantagenbesitzers. Hätte er zwar gewusst, dass die Polizisten sich die fünffache Summe abgezweigt hatten, wäre er wohl sehr wütend gewesen. Aber diese Entschädigung reichte für das nächste Schlauchboot nach Europa.

Endlich, Lenas erster Schultag. Sylvias Mutterherz schlug höher. Lena sah so hübsch aus, und im Kindergarten hatte man in den Abschiedsbrief geschrieben, dass Lena hochbegabt sei. Sylvia würde alles für ihre Tochter tun und liebte sie mit jeder Kraft ihres Seins. Der Chauffeur klingelte, Lena rannte zur Tür. Und natürlich gab es dann an der Schule eine Menge Rummel, denn alle im Ort waren sehr stolz, dass Dr. Peperkorn, MdL sich ihre Heimatverbundenheit bewahrt hatte. Die Presse war auch da, aber von dieser Seite drohte keine Gefahr. Die Zeitungen schrieben schon seit längerem sehr freundlich über Sylvia, sie wurde inzwischen als für ein Ministeramt geeignet angesehen.

Seit Mbeke die Tabletten nahm, wurde das Leben ihm jeden Tag noch mehr verwaschener und grauer. Nach dem Wutanfall im Sozialamt hatte man ihn zum Psychiater geschickt. “Ich brauche keine Pillen”, hatte Mbeke den Psychiater angeschrien. “Ich brauche Frau, Haus, Auto!” Doch mit den Tabletten waren die Wutanfälle schnell besser geworden, und heute, nach drei Monaten der Einnahme, war alles abgestumpft in Mbeke.

Tief in ihm aber brodelte immer noch der gleiche Hass, den die Sklavenhändler ihm zugefügt hatten, dieser Hass war nur, sozusagen, unter einem Pillendeckel gefangen. Und eines Tages kam dieser Fatzke in seinem Sportwagen, gegelt und mit einer Zigarette in der Hand. Eigentlich war es nur ein Vertreter auf dem Weg in die Arbeit, und der Sportwagen eine biedere C-Klasse. Aber Mbeke sah den Teufel selbst am Lenkrad sitzen, und endlich verstand er es. All dieses Getue von den Leuten hier verdeckte nur, dass sie noch schlimmer waren als die anderen, bei denen hatte man zumindest gewusst, woran man war, und sie zeigten es mit ihren Peitschen, aber was die, die ihn nun hier kontrollierten, eigentlich wollten, das hatte Mbeke nie verstehen können, doch jetzt, jetzt wusste er es, sie würden den Teufel auf seine Fährte setzen, und er würde es ihnen zeigen müssen, dass sie dem Teufel niemals würden verraten dürfen, wo er lebte, denn sonst… ja, was sonst? Er griff das Schlachtermesser und ging in die Schule des Ortes, grimmig und entschlossen. Wenn sie das Blut ihrer Kinder sehen, dann werden sie es nicht wagen, mich an den Teufel zu verraten, dieser Gedanke war übermächtig in ihm geworden.

Sylvia war zwei Stunden gestiegen, in gutem Tempo und ohne Pausen. Die Schlagzeile heute morgen im Tagblatt war die letzte gewesen, die sie sich noch antun würde. Sylvia erreichte die einsame Kapelle am Steilhang noch lange vor Sonnenuntergang. Sie hatte die Kapelle bisher immer nur aus der Ferne gesehen, aber heute ging sie hinein, um ein wenig zu rasten vor dem letzten Schritt. Sylvia setzte sich auf eine Bank und entdeckte, dass es eine Kapelle zu Ehren von Maria war. Und all die Bilder von Müttern mit Kindern im Arm brachten ihr den furchtbaren Schmerz sofort wieder zurück. Aber macht nix, dachte Sylvia. Um so besser, dann werde ich nicht unsicher sein. Der Kummer kam wie ein Sturm, die seltsame Haltung, in der Lena dagelegen hatte, ihre kleine Hand auf der klaffenden Wunde im Bauch, und all das Blut. Die tote Lehrerin, die Lena hatte schützen wollen. Und Sylvia weinte bitterlich, wie schon so oft in den Tagen seit dem Amoklauf.

Als sie wieder aufsah, bemerkte Sylvia im Schatten des Altars eine Bewegung. Dort knabberte eine Maus genüsslich an einer Hostie. Trotz all der Tränen musste Sylvia lachen. Es war geradezu sinnbildlich dafür, wie sie sich fühlte. Gott war alles egal, Er strafte sogar die, die sich für Ihn bemühten. Er war wie ein furchtbarer Zorn eines blinden Zufalls, Lena hätte gar nicht in dieser Klasse sein sollen, aber jemand war krank geworden, ausgerechnet an diesem Tag, als… “Wenn es Ihm egal wäre, was mit euch Menschen geschieht, wäre ich doch wohl kaum hier, meinst du nicht?” Die Maus blickte Sylvia aus ihren stechend grauen Augen durchdringend an. Sylvia sah sich um. Es war niemand hier. Nur sie – und die Maus. Aber das ist doch nicht möglich, dachte sie. “Ich glaubte, du würdest es verstehen”, meinte die Maus. “Wie sagtest du doch immer zu Lena? Lena-Maus, ist es nicht?”.

Sylvias Tränen waren versiegt. Wieso konnte diese Maus sprechen? Und woher wusste sie von Lenas Kosenamen? Die Maus grinste frech. “Ich hätte auch einfach raten können. Soviele Mütter nennen ihre Kinder Mäuse, das kann man gar nicht zählen. Wusstest du eigentlich, dass Walt Disney sich genau das zunutze gemacht hat, um seine Zeichentricks populär zu machen?”

Sylvia wurde wütend. Marketingstrategien waren so ziemlich das letzte, das sie in ihrer Situation besprechen wollte. Und für Sylvia würde es ohnehin keine Kampagnenstrategien mehr geben. Sie wurde damit nicht fertig, dass, auf irgendwelchen verschlungenen Pfaden, ihr Engagement für Flüchtlinge vielleicht dazu beigetragen hatte, den Mörder ins Land zu holen. Und dann wäre sie selbst die Mörderin ihrer Tochter. Sie begann wieder zu weinen.

“Lass mich in Ruhe”, brüllte sie die Maus an. “Wenn du meinst, wegen dir lächerlicher Figur spring ich nicht, dann hast du dich aber getäuscht! Du bist sowieso nicht echt, du bist nur ein Produkt meiner Phantasie!” Die Maus nickte ernst. “Ich weiß, dass du springen wirst. Das ist es ja, warum ich hier bin. Ich bin… ein Begleiter. Oder, wenn man so will, ich werde dein Anwalt beim höchsten Richter sein. Doch bevor du tust, was nicht mehr zu ändern ist, will ich dir etwas zeigen.”

Sylvia war klein geworden wie ein Floh. Sie sprang auf die Maus und flog mit ihr durch die Zeit. Sylvia sah den Folterkeller, aber sie sah auch die Knechte des Händlers. Mbeke schrie und schrie und schrie, und endlich verstand Sylvia. Natürlich musste man Mbeke befreien, und das war ja auch geschehen. Aber Mbeke dann nach Europa zu holen, damit war niemandem geholfen. Sein Dorf mit sauberem Wasser und Strom auszustatten, und Mbeke dorthin zurück zu bringen, das hätte geholfen. Seine Freunde hätten gewusst, wie die Wunden seiner Seele zu heilen wären. Was man aber stattdessen getan hatte, hatte eine Katastrophe heraufbeschworen, obwohl doch in bester Absicht gehandelt worden war.

“Gut gemeint ist nicht gut gemacht”, sagte die Maus. “Ich bezweifele überhaupt nicht, dass du in guter Absicht gehandelt hast. Aber weißt du, was dir gefehlt hat?” Sylvia dachte nach. Aber sie begriff es nicht. Was sollte man tun, um diesen Menschen zu helfen? Mehr als Mitleid brauchte es doch nicht… sie schüttelte den Kopf.

“Mut”, sagte die Maus. “Erkläre mir bitte eines. Warum habt ihr nur Mbeke geholfen, aber nicht die Sklavenhändler unschädlich gemacht? Und warum seid ihr nicht gegen die Herren der Kriege aufgestanden, vor denen die Flüchtlinge fliehen? Du musst nicht antworten, ich kann es dir sagen: Weil ihr feige wart. Weil es so schön bequem war, für nette Photos zu posieren, und die Gefahr anderen zu überlassen. Anderen wie Mbeke.”

Sylvia beugte sich vor. “Aber wer ein Leben rettet, der rettet die Welt, es steht in der Torah.” Ein sehr dunkler Zug von großem Kummer trat in die Miene der Maus. “Du denkst wirklich, Mbeke wäre gerettet worden?” Die Maus seufzte. “Wann werdet ihr Menschen es endlich verstehen, dass nicht etwas Gottes Gesetz wird, nur weil ihr es sagt. Die Hölle in Mbeke ist mit jedem Tag schlimmer geworden, aber alles was euch dazu eingefallen ist, waren schreckliche Tabletten, die ihn um den Verstand gebracht haben. Doch selbst wenn Mbeke gerettet worden wäre, was ist mit den anderen 9999 deren Glück und Freiheit seine Sklavenhändler gefordert haben? Meinst du, ein Mbeke, und schon sind Gott die 9999 egal? Wie kannst du so etwas von Ihm glauben, ich begreife es einfach nicht.”

Sylvia stand auf. Das letzte Tor war gefallen, und ihr letzter Rest von Glauben an sich selbst war gerade unter den harten Worten der Maus zu Staub geworden. “Warte noch einen Moment”, sagte die Maus. “Ich habe noch ein Rätsel für dich. Ich denke, du hast nun verstanden, dass ein gutes Herz ohne Mut nicht reicht. Hier also meine Frage.”

Doch die Maus musste nicht weitersprechen. Sylvia wandte sich zum Tal. Sie wusste, einer Meute von sensationsgierigen Journalisten entgegenzutreten würde viel, viel schlimmer sein als ein kurzes Schließen der Augen am Abgrund. Aber sie hatte nun auch verstanden, dass sie diesen Mut gegen die Meute würde aufbringen müssen. Weil sie es der Maus schuldete. Ihrer Lena-Maus.