Der Letzte seiner Art

“Ich bin der Letzte meiner Art. Ich lege Zeugnis ab über die Geschichte meines Volkes. Möge sie Licht sein für andere, in ihrem Wunder, aber auch in ihren Fehlern.”

Es hatte 7 Wochen gedauert, bis die KI die Sprache der Fremden entschlüsselt hatte, aber der Kapitän drückte sofort die Stopp-Taste und sah seinen ersten Piloten an. “Na, das ist aber mal ein Fund. Dieser Datenkristall ist beschlagnahmt und kraft meiner Autorität erkläre ich ihn zur höchsten Geheimhaltungsstufe, bis er der Akademie für historische Zivilisationen übergeben ist.”

Die Besatzung war hocherfreut, denn dergleichen kam selten vor. Es bedeutete Heimaturlaub! Höchste Geheimhaltung, das hieß nämlich auch, dass unverzüglich die nächste Admiralität des Raumkommandos anzusteuern war, und in diesem Fall war die einzig zuständige eben auf der Heimatwelt des Forscherteams. Volltreffer!

Aber die Eile und Geheimhaltung hatten einen guten Grund, man hatte in der Vergangenheit sehr schlechte Erfahrungen damit gemacht, archäologische Entdeckungen solcher Natur, dem Aufstieg und Niedergang raumfahrender Spezies, zu früh an die Öffentlichkeit zu bringen. Als man das erste Mal etwas Derartiges gefunden hatte, war es eine Sensation gewesen und breit durch die Presse gegangen. Aber es war von einer Spezies gewesen, die Äonen überdauert hatte, und diese eigentlich wunderschöne Nachricht – weil man so viel lernen konnte von dieser Spezies – hatte einen unerwarteten paradoxen Effekt hervorgebracht. Die allgemeine Öffentlichkeit war zu der Ansicht gekommen, dass wohl jede raumfahrende Spezies Millionen Jahre leben würde, und … ließ sich gehen. Fleiß und Mut wurden auf einmal als rückständig angesehen. “Man muss doch das Leben auch genießen, und wir haben ohnehin jede Menge Zeit”, das war der Trend, den niemand vorhergesehen hatte. Und es war wirklich Spitz auf Knopf gewesen, um ein Haar hätte sich ihre Zivilisation damals selbst vernichtet. “Das Universum gibt keine Garantien”, wurde in der Zivilisation des Kapitäns einer der geflügelten Sprüche jener Tage, und als man dann später ein Zeugnis einer rasant an ihrer eigenen Dummheit verloschenen Kultur entdeckte, und begriff, wie knapp man der Katastrophe des Endes der Art entronnen war, da wurde das Studium historischer Zivilisationen einer der wichtigsten Forschungszweige der Archäologie.

Der Kapitän zog sich in seine Kajüte zurück. Als oberster Vertreter der Admiralität an Bord besaß er trotz seiner Befehle weiterhin Zugang für den Kristall, allerdings beschränkt auf die Zeit, in welcher sich das Objekt in seinem Besitz befand, und mit der Auflage, es umgehend und ohne Verzögerung weiterzugeben. Aber es würde eine Weile dauern, bis man die Heimatwelt erreicht haben würde, und bis dahin, beschloss der Kapitän, würde er die Erzählung des Fremden zumindest ein wenig weiter anhören. Im Allgemeinen fand er Kristalle dieser Art zwar langweilig, und ohne umfangreiche psychohistorische Vorbildung war es sowieso unmöglich zu erkennen, woran letztlich die Zivilisation zugrundegegangen war, und welche Lehren für die eigene daraus zu ziehen waren. Sicher, die Fremden erzählten immer viel, ein schwarzes Loch war schuld, eine Supernova, sonstwas, aber die waren eben immer befangen. Deshalb war, um zu verstehen, was tatsächlich eine Zivilisation ausgelöscht hatte, ein umfangreiches Studium erforderlich, und selbst damit blieben immer sehr viele Fragen offen. Naja, die Akademie wird es schon richten, dachte der Kapitän, und ich weiß, dass ich niemanden vom Inhalt des Kristalls erzählen darf, noch nicht einmal auf meinem Totenbett, und diesen Eid nehme ich sehr ernst – und es wäre eben doch möglich, dass ich eine sehr wichtige Information finde. Der Kapitän rief das Interface des Kristalls auf den Bildschirm und wählte die Fortsetzen-Option.

Der in statischem Bild eingefrorene Fremde aus der untergegangenen Zivilisation erwachte auf dem Bildschirm wieder zu Bewegung und fuhr mit seiner Erzählung fort:

“Mein Volk ist sehr alt geworden, und es ist nur gerecht, dass es hier und heute endet. Wir haben viele Würfel gefunden in den Jahrmillionen, aber keine andere Kultur wurde so alt wie wir, jedenfalls nicht nach den Zeugnissen, die wir gefunden haben. Trotzdem wussten wir schon seit drei Jahrhunderten, dass unser Ende bald kommen würde, und haben deshalb bereits damals mit der Erstellung dieses Würfels begonnen. Milliarden von Leben sind in ihm gespeichert, und wir hoffen sehr, dass er den Wesen nach uns helfen kann, ebenso alt zu werden wie wir. Oder noch älter.”

Der Kapitän pfiff durch die Zähne. Zu gerne hätte er gewusst, ob im Museum der Akademie für historische Zivilisationen ein älteres und vollständigeres Gesellschaftsmuster gespeichert war, aber so oder so, diese Sache sah wirklich nach einem echten Knaller aus. Er sollte doch besser mit der Admiralität abstimmen, ob er vorab bereits mit der Erforschung beginnen durfte.

“Ich will ganz offen mit Ihnen sein”, sagte der Admiral. “Es wird 5 Monate dauern, bis Sie hier sind. Aber ich weiß nicht, ob wir noch soviel Zeit haben. Die Radikalen haben unbemerkt schon vor einigen Jahren eine wichtige politische Schaltstelle unterwandert, und jetzt sieht es so aus, als würde der Plan der völligen Abschottung unseres Sternensystems tatsächlich sehr bald umgesetzt. Wir beide wissen, dass das der Tod unserer Spezies sein wird, dafür gibt es viele Belege in den Kristallen, die wir gefunden haben. Aber die Radikalen interessieren sich nicht für Forschung. Und doch setzen sie sich im Volk durch, vielleicht, weil sie die Neigung zur Faulheit unterstützen, ich weiß es nicht. Jedenfalls, wenn dieser Schirm hochgezogen wird, bevor Sie zurück sind, werden wir es nie mehr erfahren, was der Fremde aus dieser uralten Zivilisation uns sagen könnte. Bitte erforschen Sie den Kristall, und ich erteile hiermit Freigabe, dass Sie nach Ihrem Ermessen Besatzungsmitglieder für diese Aufgabe hinzuziehen dürfen.”

Nach dem Subraum-Gespräch dachte der Kapitän lange nach. Er würde auf jeden Fall den Kartographen brauchen, ohne die lokalen Gegebenheiten eines Sternensystems konnte man die Entwicklungen innerhalb einer Gesellschaft nicht verstehen, und um diese Sternensysteme zu identifizieren, würde er den Kartographen dringend an seiner Seite haben müssen. Das müssen Hunderte von Sternensystemen sein, die diese Wesen bewohnt haben, überlegte der Kapitän, und wir müssen wissen, wie sie es wieder und wieder geschafft haben, die Herausforderungen all dieser Systeme zu meistern. Und nur der Kartograph würde diese Welten finden und ihre Daten abrufen können. Außerdem entschied der Kapitän, den Chefprogrammierer zu beauftragen – die Übersetzung fremder Sprachen war eine sehr knifflige Angelegenheit, und falls dabei etwas schiefging, würde nur der Programmierer die KI mit neuen Parametern versorgen können.

Das kleine Forscherteam tauchte in eine längst vergangene Zeit ein. Die Geschichte der fremden Wesen war außerordentlich spannend und faszinierend, aber auch erschreckend. So alt waren sie geworden, aber in den ersten vier Wochen des Studiums des Kristalls drehte sich darin alles um eine Zeit, als die Spezies noch, in galaktischem Maßstab, ein Baby gewesen war. Denn damals war es nur um Haaresbreite gewesen, und die Spezies des Erzählers wäre ausgelöscht worden. Den drei Forschern lief es wieder und wieder eiskalt über den Rücken, wenn der Erzähler haarklein von den furchtbaren Greueln jener Zeit berichtete. Sie konnten es nicht verstehen, warum die Spezies sich gegenseitig so grausam zerfleischt hatte, und das für Jahrtausende.

Doch die Begründung, die der Erzähler für diese Massaker gab, war von einer Art, die alle drei sofort zur Überzeugung brachte, dass das eine der Ausflüchte sein müsse, wie man sie schon den Kindern in der Schule erklärte. Der Erzähler behauptete, die Spezies wäre unterwandert worden von getarnten Invasoren, und die hätten an all dem Schuld gehabt. Es war offenkundiger Blödsinn, denn wie jeder wusste, und wie sich aus jedem jemals gefundenen Kristall ergab, kam alles Wissen erst mit der nötigen Reife der Seele zu einem Volk, und da es darum ausgeschlossen war, dass raubmordende Wesen zu einem fremden Planeten reisen könnten, um dessen Bevölkerung umzubringen, war es völlig klar, dass dieser Mythos der Fremden nichts weiter als ein Unvermögen war, sich den eigenen Fehlern zu stellen. Wie es eben sehr verbreitet war, und wie es eben die Geschichte fast jeder Zivilisation besagte.

Trotzdem legte der Kapitän sein Veto ein, als die anderen auf spätere Zeiträume zugreifen wollten. Das sei alles nichts Ungewöhnliches, meinten sie, dort, in der Frühzeit der Fremden, würde auf keinen Fall der Grund für die Langlebigkeit jener Kultur zu finden sein. Aber der Kapitän blieb stur. “Ich will wissen, warum der Erzähler dieser Epoche soviele Daten gewidmet hat. Und ich glaube nicht, dass eine so alte Kultur wie die seine noch sehr anfällig für Ausflüchte war. Ich möchte euch beide erinnern, dass der Hochmut der Feind jeden Wissens ist. Nur weil etwas noch nie geschehen ist, so könnte es morgen doch passieren. Niemand kennt alle Gesetze des Obersten Richters.”

Und bald darauf wurde es interessant. Sehr interessant. Die Fremden, so hörten die Forscher, hatten die Invasoren auf ihrer Welt nicht nur überwunden, sondern fünftausend Jahre später sogar deren Ursprungswelt entdeckt und dort intensive Ausgrabungen durchgeführt. Die räuberischen Invasoren hatten sich tatsächlich selbst vernichtet, wie es jeder Spezies ohne gutes Herz droht; und der Trupp der Invasoren, der auf der Welt der Fremden gelandet war, und sie mit fortschrittlicher, der Spezies des Erzählers zu jener Zeit weit überlegener, Technik unter eine brutale und grausame Herrschaft gebracht hatte, war tatsächlich von diesem Volk einer längst untergegangenen Kultur auf deren erst viel später archäologisch erforschten Ursprungswelt ausgegangen.

Dies war umso erstaunlicher, da – im Einklang mit den kosmischen Gesetzen – die Invasoren die interstellare Raumfahrt gar nicht beherrscht hatten, sondern mit einem sehr altertümlichen Antrieb zur Welt der Fremden gekommen waren, welche die einzige war, die sie mit ihrem schneckenlahmen Raumschiff erreichen konnten. Die Invasoren waren außerdem eigentlich Rebellen, die geflohen waren, weil sie zuhause Verfolgung fürchten mussten, und Leute von bravem Herzen, aber als Jahrhunderte später die Verbindung zu ihrer Heimatwelt abriss, und sie begriffen, dass sie nun ganz alleine im Universum waren, da war der Teufel in ihre Seelen gekommen.

Auf perverse Art rächten sich die Invasoren daraufhin an den Fremden, zu deren Spezies der Erzähler gehörte. Sie versuchten, den Obersten Richter zu bestrafen, weil ihr Volk vergangen war, und die Spezies des Erzählers war das einzig verfügbare Opfer für solchen Wahn. Und hinzu kam, dass unter den Invasoren die verrückte Idee populär wurde, ihre Zivilisation neu entstehen zu lassen, und dafür den Planeten der Fremden derart umzugestalten, wie einst die Heimatwelt der Invasoren gewesen war. Und dass dabei die Spezies des Erzählers aussterben würde, war unvermeidlich, und wäre ja auch um ein Haar geschehen.

Der Erzähler schloss dieses Kapitel der uralten Geschichte seiner Spezies ab: “Wir hatten sehr große Mühe, uns der Bedrohung der Invasoren zu entledigen, und erst als wir die Tragik der Invasoren verstanden, dass sie allein auf unserer Welt gestrandet waren, und ihnen die Freundschaft anboten und unsere Hilfe dabei, eine andere Welt zu finden, die für die Invasoren besser geeignet wäre, als die unsere, kam es zu einem Waffenstillstand. Die Invasoren behielten trotzdem ihre Macht über uns, und eben dies war das Problem, warum niemand uns zu Hilfe kommen konnte. Die Invasoren hielten nicht nur unsere Spezies, sondern auch das gesamte Leben auf unserer Welt als Geisel gefangen. Und deshalb konnte keines der galaktischen Geschwistervölker etwas tun, wir mussten uns selbst befreien. Ich werde hier nicht erzählen, wie wir die Invasoren wieder losgeworden sind, Sie finden es in den beigefügten Daten, und ohnehin muss das jeder, der in eine solche Situation geraten würde, selbst für seine spezifischen Gegebenheiten neu erforschen. Aber ich will sagen, was unser größtes Problem dabei gewesen ist – wir waren dem Hochmut verfallen, dass niemand im Universum uns überlegen sein könnte, und deshalb hat es Jahrhunderte gedauert, bis wir erstmals überhaupt versucht haben, die Invasoren unter uns aufzuspüren, und selbst als man es endlich zu erforschen begann, wurden die ersten Pioniere dieser Kunst verlacht und verspottet.”

Der Kapitän hatte einen dieser Momente, in welchem der Urgrund des Universums aufreißt und das gleißende Licht der Schöpfungskraft hindurchbricht. “Niemand wird mir glauben”, dachte er. “Aber vielleicht ist dieser Datenkristall eine Fügung. Ein Wink der Großen Mutter, und Ihre Hoheit wünscht zu wissen, ob nicht auch wir längst dem Hochmut zum Opfer geworden sind?”

Die Dinge hatten auf ihrer Welt natürlich völlig anders gelegen. Weil man bereits die interstellare Raumfahrt beherrschte, schien die Vorstellung noch absurder, dass man von Invasoren unterwandert worden sein könnte. Aber dann hatte man unter strengster Geheimhaltung Brillen entwickelt, mit denen jeder die Formwandler von Alpha Centauri sofort identifizieren konnte, und der Kampf hatte begonnen, obwohl es danach immer noch außergewöhnlich schwierig gewesen war, die Kommandostrukturen der Centauren auszuschalten, ohne dass sie die Selbstzerstörung des Planeten auslösten.

Der Kapitän und der Admiral trafen sich persönlich erst, als die Ereignisse um den Kampf gegen die Formwandler-Invasoren schon Jahre zurücklagen. “Ich begreife es bis heute nicht”, sagte der Admiral. “Wie konnten Sie es wissen? Junge Junge, diese Medienkampagne damals gegen uns, sogar ein Disziplinarverfahren hat man uns angehängt. Und ich gestehe, bis heute weiß ich nicht, warum Sie nicht auf die Lügenpropaganda der Invasoren hereingefallen sind, ich habe Ihnen zwar vertraut, aber ich habe keine Ahnung, warum. Was hat Ihnen damals diese Sicherheit der Seele gegeben, sich gegen die Meinung fast aller anderen zu stellen?” Der Kapitän schüttelte den Kopf. “Ich kann es selbst nicht sagen. Aber die jahrmillionenalte Spezies des Erzählers hatte ein Sprichwort, und es hat mich nicht mehr losgelassen: Hochmut kommt vor dem Fall.”