Es war nicht so, dass sie Menschen nicht verstand, die der Angst erlagen. Denn sie kannte die Angst. Aber dann war, in ihrem dreizehnten Jahr, dieser Tag gewesen, als der Engel kam. Er kam als ein Spatz, und flog mit ihr in den Himmel. Und als sie Rast hielten auf einer Schäfchenwolke, da hatte der Engel es ihr erklärt. Jeanne war ewig. Gottvater hatte ihr eine Seele geschenkt, und also war sie ewig – weil Seelen ein Funken Seiner Ewigkeit sind.
Von diesem Tage an hatte sie keine Angst mehr. Ihr Land war in einem Hundertjährigen Krieg besetzt, und die Engländer führten ein hartes Regime. Fast alle Menschen beugten sich furchtsam der Gewalt, aber nicht Jeanne. Und der Engel hatte sie begleitet, mal erschien er ihr als ein geflügeltes Kind, mal als ein Tiger. Doch immer hatte es sich richtig gewiesen, was der Engel ihr erzählte, und so war Jeanne nach einem langen und zähen Bemühen vor den französischen Thronanwärter getreten, hatte ihn überzeugt und als Volksheilige mit dem Segen der Kirche das Heer zum unerwarteten Sieg in Orléans geführt. Doch heute, heute würde sie dem Engel widersprechen. Dieses Mal würde sie der eigenen Stimme folgen.
“Nein”, sagte Jeanne fest. “Ich muss den König überzeugen, dass ich Paris befreien kann. Wenn er mir eine Armee unter mein Kommando gibt, dann wird diese Armee der Auftakt sein, dass alle Engländer aus Frankreich gehen müssen. Gottvater hat dieses Land uns gegeben, wir haben jedes Recht, dafür zu streiten, und Er wird auf unserer Seite sein. Ich muss ziehen. Ich danke dir für deine Warnungen, alter Freund, aber ich muss ziehen.”
Und so war es gekommen. Der Dauphin, der mit ihrer Hilfe zum König geworden war, konnte sich ihrem Wunsch nicht länger widersetzen, insbesondere, da so vieles schief gegangen war in letzter Zeit. Der König war zwar vollkommen sicher, dass das sehr geschwächte Rest-Frankreich dem starken englischen Heer zumindest noch nichts entgegenzusetzen hatte. Aber auch seine eigenen militärischen Pläne waren gescheitert, Folge seiner Unerfahrenheit als Oberbefehlshaber, und das Volk begann zu murren. “Wenn es für sonst nichts gut ist, dann könnte es zumindest den Volkszorn in andere Bahnen lenken”, dachte der König. Und Jeanne, die Volksheilige, zog gegen Paris.
Am Vorabend des Sturms auf die englischen Besatzer kam der Engel wieder. Er war gegürtet in einen goldenen Harnisch, und trug eine bunte Feder am Helm. Jeannes Herz tat einen Sprung aus Dankbarkeit und Freude. Das musste es sein, das gütige Omen, das Gottes Beistand für die morgige Schlacht versprach.
“Du täuscht dich”, sagte der goldene Ritter. “Ich bin gekommen dir zu sagen, dass Gott die größte Macht im Universum ist, und dass seine Pläne unerforschlich sind. Was wirst du von Ihm denken, wenn Er morgen auf der Seite der Engländer stehen wird?” Jeanne war enttäuscht. Wie war es nur möglich, dass Er morgen die Engländer unterstützen würde? Dieses Land ist unser Land! “Oh, das habe ich gar nicht gesagt”, erwiderte der Engel. “Auch ich weiß nicht, wie Seine Pläne sind. Unerforschlich bedeutet eben genau dies, verstehst du? Warum sollte ich diese Pläne kennen, würde ich oder irgendwer sie wissen, so wären sie doch nicht mehr unerforschlich? Aber ich kenne Ihn, seit langer Zeit, und so ahne ich dennoch oft, wie Er handeln wird.
“Das ist es, was du missverstehst”, fuhr der Engel fort. “Du meinst, würdest du mich dazu bringen können, dir Seinen Beistand zu versprechen, so wäre der Himmlische Vater daran gebunden. Aber Ihn bindet nichts, nicht in Raum, und nicht in Zeit.” Der Engel seufzte. “Alle sagen sie, dass sie im Namen Gottes, also des Guten, handeln würden. Aber wer bestimmt, was gut ist, und was schlecht? Das Lamm, das dem Tiger in den Rachen fällt, findet das gewiss sehr schlecht. Aber hat nicht der Tiger jedes Recht, es dennoch gut zu finden? Nein, worum es gehen würde, das ist Richtig Handeln, aber gerade dieses Thema umschifft man weiträumig, und aus Gründen.
“Siehst du, mein liebes Kind, gut und böse, das sind wertende Kategorien, aber richtig und falsch, das sind absolute Kategorien. Natürlich ist es zwar richtig für die Menschen, wertende Kategorien zur Richtschnur ihres Handelns zu erheben, denn die sind ja ihre subjektive, also in ihren Interessen liegende, Sicht der Dinge, und um also wertende Kategorien außer Acht lassen zu wollen, müsste die Menschheit sich doch zuerst einmal ihrer selbst entleiben, es liegt in der Natur des Seins. Aber dabei darf man keinesfalls die absoluten Kategorien außer acht lassen, und es sind diese Kriterien, die zum Beispiel an die Herrschaft eines Königs anzulegen sind. Ein König muss das Richtige tun, denn es spielt keine Rolle, ob hinterher die Lämmer oder die Tiger meinen, das wäre gut gewesen, es ist einzig entscheidend, dass es weiter Lämmer und Tiger in gerechter Zahl gibt nach dem, was der König getan hat.”
Jeanne war sehr still geworden. “Aber ich kann doch jetzt nicht mehr zurück”, flüsterte sie. “Ich würde alle verraten, die an mich geglaubt haben.” Der Engel nickte. “Ja, das würde wohl so sein. Aber werden sie ihren Glauben nicht auch verraten fühlen, solltest du morgen unterliegen?” Sie widersprach. “Nein, dass ein Soldat in der Schlacht scheitert oder fällt, das nimmt einem nicht den Glauben. Das ist es eben, was einem Soldaten geschehen kann, jeder weiß es, und deshalb wird darum keiner den Glauben an meine heilige Mission verlieren. Ich muss gegen Paris ziehen und Frankreich befreien, und ich werde es.”
Ob Gott Seine Hand im Spiel gehabt hatte, vermochte Jeanne nicht zu sagen. Tatsächlich waren sie einer englischen Übermacht entgegengestanden, die so gewaltig und erdrückend gewesen war, dass es keinerlei himmlischer Einflussnahme bedurfte, ihren Sieg zu garantieren. Der Dauphin, den Jeanne zum König gemacht hatte, hatte also doch recht gehabt, die Maus tötet den Löwen nicht. Und allem Heldenmut zum Trotze, Jeanne stürzte sich sogar bereits verwundet ein weiteres Mal in die Schlacht, blieb irgendwann nur mehr die heillose Flucht durch Feindesland. Und obwohl Jeanne es mit all der Kraft ihrer Seele glaubte, dass Gott sie in der Schlacht um Paris beschützt hatte, und sei sie eben verloren, so musste sie nach Monaten der Flucht eines Morgens doch erkennen, dass nun der Tag gekommen war, dass Gott sie verlassen hatte. Ein mit den Engländern verbündeter burgundischer Herzog stellte sie und überwältigte ihre kleine Schar mühelos. Mehr noch, sie nahmen Jeanne lebend gefangen und lieferten sie an die feindlichen anglikanischen Bischöfe aus.
Natürlich hatte man in der anglikanischen Kirche den steilen Aufstieg, auf der Seite des Feindes, von Jeanne zur Volksheldin mit Argusaugen verfolgt. Und nun sah man die perfekte Möglichkeit, den gegnerischen Bischöfen in der, nach ihrer Sicht, häretischen und gottlosen Vatikantruppe einen schweren Schlag zu versetzen. Die Katholen hatten sie zur Heiligen gemacht, aber die Anglikaner würden nun beweisen, dass Jeanne ganz im Gegenteil eine Hexe war, und all ihre Visionen nur Trugbilder des Teufels.
Jeanne war unversehens zum Spielball politischer Intrigen geworden, und mehr als die entsetzlichen Qualen, die ihr die Folterknechte der englischen Kirche zufügten, schmerzte sie die Erkenntnis, dass der Dauphin ihr nicht zu Hilfe kam. Er hatte sich von ihr abgewandt. Seltsam, dass sie nach all den Jahren immer noch den Dauphin in ihm sah. Ihr Herz hatte sie Jesus geweiht, aber gab es ihr nicht immer wieder einen Stich, wenn sie an den Dauphin dachte, wie elegant er war und wie edel sein Antlitz? Was wäre gewesen, wenn wir ein Paar gewesen wären, dachte Jeanne. Vielleicht wäre Paris doch gefallen? Aber natürlich war es völlig unmöglich gewesen, Jeanne ein Sproß einer Bauernfamilie, und der Dauphin der Stammhalter einer reichen Dynastie. Kein Priester hätte sie getraut, und hätte es einer doch getan, so wäre es sofort annuliert worden vom nächsten Priester, der ihnen begegnet wäre. Nein, es war alles richtig so, wie es gewesen war, Gott hat mich nicht verlassen, denn das kann Er nicht, meine Seele ist von Ihm, und also ist sie ewig wie Er. Und so hatte sie schon lange sich in ihr Schicksal ergeben, und in sich einen Ort aufgesucht, an dem keine Qual und keine Furcht sie mehr erreichen konnten.
Ein Spatz flog herbei und setzte sich vor die Gitterstäbe des schmalen Fensters ihrer Zelle. Oder war es ein Traum? Unter all der Qual, die ihr die Inquisitoren zugefügt hatten, waren ihre Augen trübe geworden, und sie wusste nicht mehr zu scheiden zwischen Wahn und Wirklichkeit. Und doch war es so, ihr alter Freund war noch einmal zu ihr gekommen, und er war ihr wieder als Spatz erschienen, wie beim ersten Mal. Jeanne wurde es wehmütig ums Herz. Ach, hätte ich doch auf ihn gehört am Abend vor der Schlacht. Er wollte mich warnen, aber ich war zu stolz.
“Oh nein”, sagte der Spatz. “Ich glaube nicht, dass du damals der Todsünde des Hochmuts verfallen warst. Ich bin mir noch nicht einmal sicher, ob es zu dieser Zeit überhaupt noch einen anderen Ausweg gegeben hätte. Hättest du Schwäche gezeigt, hätte man euch genauso gejagt, als wie man es nun getan hat, da du und deine Truppen Verwundbarkeit tatsächlich bewiesen habt. Nein, ich glaube, es war ein anderer Fehler, den du gemacht hast. Man mag ihn dir verzeihen, denn er war deiner Jugend geschuldet, aber nun, da du bald dem Herrgott gegenüberstehen wirst, solltest du es doch noch verstehen. Die Jugend ist immer so ungeduldig, und wie sehr Mut, Tugend und Geduld verbunden sein müssen für den gerechten Sieg, das hast du leider noch nicht verstanden, mein armes Kind. Und morgen wirst du brennen für diesen schlimmen Fehler. 92 Jahre ist Frankreich nun schon unter englischer Herrschaft, wer könnte es sagen, wann es wieder frei sein wird? Manche Länder waren oder sind schon Jahrhunderte unter Fremdherrschaft, und du dachtest, in nur zwei Jahren könntest du ganz Frankreich befreien? Ach, hättest du dir bloß mehr Zeit gelassen, und doch … man muss aufstehen gegen das Unrecht, und wenn man der Einzige ist, der es tut.”
So sprachen sie lange Zeit, und sie sprachen als der Morgen kam, und man Jeanne auf den Scheiterhaufen führte. Als das Feuer giftigen Qualm zu werfen begann, und weiter, als Gott Jeanne einen letzten Dienst tat, und die erstickenden Dämpfe ihren geschundenen Körper in eine tiefe Ohnmacht warfen, bevor die Qual der heißen Schmerzen an den Füßen Jeanne hätten schreien lassen. Die Menge bekreuzigte sich, denn diese da starb still, und also war sie keine Hexe, sondern dem Tod entflohen, und die Hellsichtigen unter den Zusehern erblickten, wie ein Ritter in goldener Rüstung über dem Feuer erschien.
Und dann saßen Jeanne und der Spatz wieder auf der Schäfchenwolke der Jugendtage, und sie erzählten immer noch, und lachten, und scherzten, und der Spatz erklärte Jeanne alle Wunder des Universums. Und ehe sie es sich versahen, waren 22 Jahre vergangen, als ein großer Jubel und eine große Freude in Jeannes alter Heimat zur hohen Schäfchenwolke heraufklangen. Der Hundertjährige Krieg war zu Ende, England vertrieben und Frankreich befreit. Ein gewisser Herzog in Burgund befand sich auf der Flucht, aber Jeannes Geschichte würde ewig leben. Ihr Mut und die Reinheit ihrer Ideale würden den Menschen ein Vorbild sein in vielen Teilen der Welt.
Postscriptum: Dies ist eine frei erfundene Erzählung, die allerdings vor dem Hintergrund der realen Ereignisse im Leben von Jeanne d’Arc, zu deutsch Johanna von Orléans, spielt, und sozusagen den Versuch unternimmt, ohne jeglichen Anspruch auf irgendwelche inhaltliche Korrektheit, den Visionen, die für Jeanne d’Arc verbürgt sind und für die sie heilig gesprochen wurde noch zu Lebzeiten, ein literarisches Bild zu geben. Mehr zu Jeanne d’Arc zum Beispiel bei Wikipedia, aber es gibt unzählige Bücher und Filme über sie. Und übrigens, der “Hundertjährige Krieg” zwischen England und Frankreich dauerte tatsächlich sogar 114 Jahre (1339−1453), falls Sie sich beim Nachrechnen wundern würden.