Die Mühle der Ewigkeit

Es waren goldene Zeiten. Mit großen Erfolgen in Wissenschaft und Technik war Deutschland zu einer führenden Macht in Europa aufgestiegen und ein ernstzunehmender Akteur in der internationalen Politik geworden.

Heinz hatte gerade den Schulabschluss in der Tasche, und bald würde die Universität beginnen. Er fuhr durch das Land, um seine geliebte Heimat besser zu verstehen. Geboren war er in Ostpreußen, in Bischofsburg, doch schon als er erst drei Jahre alt gewesen war, waren seine Eltern nach Bayern in das schöne Städtchen Füssen übergesiedelt. Vom Rest des Reiches kannte Heinz nicht viel, und so nutzte er die Zeit zwischen dem Ende der Schule und dem Anfang seines Studiums der Schiffbautechnik für eine Rundreise.

Es versteht sich, dass er besonders zu den Häfen wollte, denn für die wollte er doch Schiffe bauen. Und in Bremen geschah es.

Heinz traf einen Engel.

Nun, keinen richtigen Engel. Einen aus Fleisch und Blut, Johanna war ihr Name. Johanna war aus armer Familie und arbeitete als Hausangestellte bei einem Fabrikanten. Ihr einziges Vergnügen war der Tanztee im Café, das eine Mal in der Woche, wenn sie ein wenig Zeit für sich hatte und nicht nur dienstbarer Geist sein musste, ohne Namen – “Das Mädchen soll sich darum kümmern.”

Johanna war geschmeichelt durch die offensichtliche Entzückung, die sie in dem adretten Jungen auslöste. Sehr ungeschickt war er jedoch, kaum einen geraden Satz brachte er hervor. Erst spät am Abend wurde er freier und auch durchaus charmant. Es war das Bier, das ihm die Zunge löste. Johanna kannte sich mit dergleichen aus. Sie hatte ihren Vater früh an den Alkohol verloren, und so war sie recht vorsichtig. Aber Heinz war der erste Mann in ihrem Leben, der ihr das Gefühl gab, wertvoll zu sein.

Nach dem zweiten Tanztee erzählte sie Heinz, dass sie abends die Hunde auszuführen hatte. Und so trafen sie sich bald jeden Tag im Park, wenn die Dämmerung fiel.

Heinz wusste, das ist sie. Bald würde er wieder nach Hause müssen, aber ohne sie konnte er nicht gehen. Er fiel auf die Knie vor Johanna. “Bitte komm mit, was willst du noch hier. Ich werde es möglich machen, für dich hole ich sogar die Sterne vom Himmel.”

Na, das gab einen Aufstand, als Heinz zurück war, und nicht allein. “Sie ist so ein fleißiges Mädchen”, beschwor er seine Eltern. “Sie wird euch zur Hand gehen. Und wenn das Geld nicht reicht, wird sie sich Arbeit suchen.” Ein Jahr später heirateten sie.

“Heinz, hast du schon gehört, die Russen sind in Ostpreußen einmarschiert!” Heinz erschrak. Ja, die Zeitungen waren voll vom Krieg, aber hatte es nicht geheißen, die russische Armee sei noch gar nicht gerüstet? Wie konnte das sein, dass sie nun in Bischofsburg waren? Er musste gehen, die alte Heimat verteidigen.

Der Leutnant schwor sein Bataillon auf den morgigen Tag ein. “Das ist die entscheidende Schlacht, wenn wir morgen durchbrechen, werden wir die Russen aus dem Reich vertreiben. Jeder muss sein Bestes geben. Für den Kaiser und das Vaterland!”

Mit dem ersten Licht der Sonne begann der Angriff. Heinz hatte sich freiwillig gemeldet, für eine Vorhut mit dem Befehl der Artillerie-Aufklärung. Sie schlichen durch den Wald. Ein Knacken, und ein Schatten von braunem Tarn. Heinz schoss ohne Zögern. Es war ein Knabe, nicht älter als 12 oder 13, den er getötet hatte. Vielleicht der Stiefelknecht eines russischen Offiziers. Doch Heinz blieb keine Zeit darüber nachzudenken. Sie waren entdeckt und der einzige Weg heraus war der nach vorn. Sie eroberten den feindlichen Unterstand.

Heinz war so anders geworden seit dem Krieg. Sicher, immer noch liebte er Johanna sehr. Aber obwohl ihr erstes Kind geboren war, ein Junge, und das zweite mit Johannas rundem Bauch jedem sein Kommen herausposaunte, hatte er begonnen zu Trinken. Sie roch es, und das war das Schlimme daran – er tat es heimlich. Böse Erinnerungen an ihren Vater quälten Johanna. Wenn Heinz ihr nur erzählen würde, was im Krieg geschehen war. Aber Heinz sprach niemals über jene Zeit, nicht ein Wort.

Als der Sohn in die Schule kam, begann es. Niemals konnte er es seinem Vater recht machen, es setzte fast jeden Tag Schläge, mit dem Gürtel sogar. “Nimm dir endlich ein Vorbild an deiner Schwester”, schrie er den Buben an, in sinnlosem und unbegreiflichem Furor. Und wenn Johanna versuchte, dazwischenzugehen, konnte sie tagelang nur mit Sonnenbrille auf die Straße.

Es war kein Wunder, dass der Junge den Heilsversprechen einer neuen Partei und ihrer vor einigen Jahren gegründeten Jugendorganisation auf den Leim ging. Er trat in den Nachwuchsverband ein, aber das steigerte den Zorn seines Vaters erst recht zur Raserei.

Eines Abends klopfte es an der Tür. Heinz ging öffnen, und da standen diese Pimpfe mit ihrem Gruppenführer. Sie ließen Heinz nicht den Hauch einer Chance und schlugen ihn so gründlich zusammen, dass er mehrere Wochen im Krankenhaus lag.

Vater und Sohn sprachen nie mehr miteinander. Doch Prügel gab es freilich auch nicht mehr.

Johanna war zutiefst verzweifelt über dieses Zerwürfnis, aber es gab nichts, das sie tun konnte. Denn nun richtete Heinz seine Wut auf sie und machte ihr das Leben zur Hölle. Aber sie musste durchhalten, um der Kinder willen.

Die neue Partei kam an die Macht, und es gab wieder Arbeit für alle. Heinz ging an eine Werft in Hamburg, endlich erfüllten sich die Träume seiner Kindheit und er konnte Schiffe bauen. Nur alle zwei Wochen kam er nach Hause, jedesmal endete es in furchtbarem Streit und Gebrüll. Aber immerhin, danach waren es wieder 14 Tage Frieden.

Das Telegramm erreichte Johanna ein paar Wochen nach Weihnachten. “Ihr Ehemann ist verstorben. Bitte melden Sie sich auf der Polizeiwache in Hamburg.” Man hatte ihn im Schnee gefunden, erstickt an seinem Erbrochenen.

Johanna war nun allein. Sie machte sich große Vorwürfe. “Ich hätte es wissen können, mein Vater warnte mich aus seinem Grab. Was soll nur aus den Kindern werden? Wie konnte ich nur so blind sein.” Trotzdem, ein letztes Mal strich sie Heinz zärtlich über das Haar, und sie flüsterte in sein kaltes Ohr: “Was immer es war, dass dich so sehr gequält hat, es war leider mächtiger als du. Ich verzeihe dir.”

Der Junge zog in den Krieg, begeistert und wie irre im Glauben an die Überlegenheit des eigenen Stammes. Man nahm ihn gefangen, bald danach, und im Lager besiegte ihn der Typhus. So große Ehre hatte er gewollt, doch ein winziges Bakterium war stärker gewesen.

Johanna hatte keine Tränen mehr. Erst der Vater, dann der Sohn – was war das nur für ein Gott, der ihr so grausam mitspielte? Der Pfarrer hatte versucht, sie umzustimmen, aber nein, eine Kirche würde sie nie mehr betreten.

Johanna stand mit ihrer Tochter am Straßenrand und schwenkte die amerikanische Flagge. Ein paar Blumen hatte sie auch mitgebracht und streute sie auf die vorbeirollenden Panzer.

Einige Jahre später war ihr kleines Mädchen sehr groß geworden. Sie unterrichtete Deutsch und Latein an einer Schule für höhere Töchter, und einen feinen Ehemann hatte sie auch gefunden. So kam dann der Tag, an dem Johanna sich doch wieder mit dem Herrgott versöhnte. Das Würmchen krähte und schrie, aber es war ein gesunder und kräftiger Junge. Johannas erster Enkel. Sie wechselte in die Nachtschicht der Näherei, in der sie nach dem Krieg Arbeit gefunden hatte, und ging ihrer Tochter zur Hand so sehr sie es nur vermochte. Denn sie sollte doch an der Schule bleiben können, Johanna wollte, dass ihre Tochter immer auf den eigenen Füßen stehen würde können. Denn, auf die Männer ist kein Verlass, pflegte sie zu sagen.

Vier Enkel wurden es, und sie alle liebten ihre Oma sehr. Und Johannas Tochter wurde eine der ersten Schuldirektorinnen in Deutschland.

Johanna lag im Sterben, sie wusste es aus der Tiefe ihres Herzens. Doch erst als ihr ältester Enkel sie noch einmal besuchen kam, schlief sie in seinen Armen friedlich ein.

Ein Adler flog herbei und trug Johannas Seele fort, in eine ferne Zeit.

Heinz setzte sich nieder. Nur ein wenig ausruhen, dachte er. Alles ist doppelt, ich finde den Weg ja gar nicht mehr. Doch selbst im Sitzen drehte sich alles so rasend, dass er sich hinlegen und seinen Kopf auf einen Schneehaufen betten musste.

Eine kleine Maus trippelte zu ihm. “Hey du, was machst du da in der Kälte?” Seltsam, dachte Heinz. Alle reden immer von weißen Mäusen, aber dass man es im Delirium mit sprechenden Mäusen zu tun bekommt, davon habe ich noch nie etwas gehört.

“Ich bin keine Maus”, sagte die Maus. “Ich bin ein Bote aus deiner Vergangenheit.” Und da war es wieder, das Knacken, der braune Tarn. Das Gesicht des Knaben, verzerrt im schrecklichen Schmerz des Todes. Heinz erbrach sich.

“Siehst du”, sagte der Adler zu Johanna. “Er nahm einem Vater den Sohn, und so musste ich ihm den Sohn nehmen. Es ist das Göttliche Gesetz, verstehst du?” Johanna war verwirrt. “Aber unser Sohn ist doch erst viel später gestorben im Gefangenenlager, lange nach Heinz, was redest du da?”

Der Adler breitete seine Schwingen zärtlich um Johanna. “Was macht das für einen Unterschied? Wir alle sind ewig.

“Auge um Auge, Zahn um Zahn, bis alle blind und zahnlos sind. Oder einer vergibt. Und das warst du, mein liebes Kind… sogar Gott hast du noch verziehen, und Ihm immer treu gedient. Auch Unser Vater liebt deine Enkel, weißt du? Und deshalb schickt Er mich heute, und lässt dir sagen, Er dankt dir sehr.”