Das Pflaster der Feigheit

Der Wecker klingelt. “Guten Morgen, Bürger CX-261298-A. Deine Schicht beginnt in 60 Minuten. Begrüße einen neuen glücklichen Tag in der besten aller Welten und danke der Regierung, die sich aufopferungsvoll um dich bemüht. Zusammen sind wir stark!”

Thomas wälzt sich auf die andere Seite. Seit dem letzten Update hat das System sogar meinen Vornamen vergessen, denkt er. Und gestern war endlich die neue Version von Mortal Kombat herausgekommen, und er hat bis tief in die Nacht im virtuellen Raum die Zeit vergessen. Thomas schläft wieder ein.

“Bürger CX-261298-A, dir werden 50 Credits von deinem Sozialkonto abgezogen. Du hast verschlafen, und musst deshalb die Morgengymnastik überspringen, um noch rechtzeitig zum Dienst zu kommen. Beeile dich nun, um noch höhere Sanktionen zu vermeiden.” Das Licht im Zimmer ist auf maximale Helligkeit gedreht, und aus der Stereoanlage dröhnt mit voller Lautstärke die Hymne der Partei. “Die Verlorenen sind es nicht mehr, denn die große Partei liebt sie sehr.”

Verdammt, denkt Thomas. Muss ich schon wieder das Mittagessen ausfallen lassen, sonst kann ich heute abend nicht in den Cyberspace. Er quält sich aus dem Bett und macht eine schnelle Katzenwäsche. Zu spät kommen wäre eine komplette Katastrophe. Der Vorarbeiter kennt kein Pardon, der schmeißt ihn vielleicht sogar gleich raus. Und dann müsste er vor die Mauern der Beschützten Stadt, und dort herrscht ewiger Krieg, sagen die Nachrichten. Die Menschen müssen dort um alles kämpfen, und das größte Problem ist, dass es keinen Treibstoff gibt und alles so weit auseinanderliegt. In der Beschützten Stadt braucht man kein Fahrzeug, denn alles ist in Reichweite von 15 Minuten Fußweg. Man muss auch immer das Gute sehen, denkt Thomas. Es könnte alles viel schlimmer sein.

Er ist fertig und will sich auf den Weg zur Arbeit machen. An der Tür seines Appartements hält er das Auge in den Scanner, doch das Schloss bleibt rot. Mist, was habe ich vergessen, überlegt Thomas. Ach ja, das Pflaster. Dieses Pflaster ist ein Wunderwerk der Technik, jede Nacht ermitteln die medizinischen Autoritäten die gerade kursierenden Viren und stellen eine maßgeschneiderte Impfung zusammen, die dann mit einem in jeder Wohneinheit installierten Gerät ausgedruckt und über ein Pflaster mit Mikronadeln verabreicht wird. Thomas hastet ins Badezimmer, reißt die Folie ab und klebt sich das segensreiche Geschenk der Partei auf den Unterarm. Jeden Tag eine andere Stelle, das ist Vorschrift, aber wenn er alles richtig macht, wird er mit Musik belohnt: “Die Verlorenen sind es nicht mehr, denn die große Partei liebt sie sehr.”

Die Steuerungsrunde tritt zusammen. Andreas wird wie jeden Tag von einem Hochgefühl erfasst, als das System nach dem Augenscan ihm die Tür zum Konferenzsaal öffnet. Ihn hat man erwählt, im Komitee für Produktionsplanung die Ziele festzulegen. Diese verantwortungsvolle Aufgabe erfordert ein sehr hohes Maß an Verständnis für die Daten der künstlichen Intelligenz, welche die Beschützte Stadt steuert. Früher glaubte man, man könnte sogar alles dieser KI überlassen, aber ohne ein kreatives Begreifen geht es einfach nicht. Dieser Winter, als es Gummi-Enten in Hülle und Fülle gab, aber keine Mützen und Schals… Nur die Besten werden auserwählt, als menschlicher Korrekturfaktor dienen zu dürfen, und sie erhalten dafür eine Reihe von Vergünstigungen. Vergünstigungen, die Andreas längst nicht mehr missen will. Die große Wohnung, der jährliche Ausflug an die Küste, das bessere Essen. Zwar gibt es auch für ihn an 6 Tagen der Woche Insektensubstitut, aber Sonntags, Sonntags gibt es echtes Fleisch.

Der Vorsitzende des Steuerungskomitees eröffnet die Runde. “Freunde, es gibt hervorragende Nachrichten. Die neue Roboter-Generation ist endlich einsatzfähig. Wir werden damit eine Produktivitätssteigerung von 27,8 Prozent erreichen und können auf 15 Prozent der Arbeiter ab sofort verzichten.” Alle applaudieren. Andreas aber wundert sich, er ist noch nicht so lange dabei, von einem Verzicht auf Arbeiter hat er noch nicht gehört. Was bedeutet das?

Andreas meldet sich zu Wort. “Wie wird die Reduktion der Arbeiter ausgeführt?” fragt er schüchtern. Die anderen am Tisch schmunzeln wissend, und der Vorsitzende erklärt: “Nun, die Arbeitsziele werden genau berechnet um soviel hochgesetzt, wie die neue Robotergeneration die Warenproduktion erhöht. Und der Arbeiter, der diese Ziele nicht erreicht, darf in das Paradies des ewigen Schlafes, in seinem morgendlichen Pflaster findet er dann dieses letzte Geschenk der Partei. Das ist ganz einfach.”

Ein kalter Schauer überläuft Andreas. “Aber, ist das nicht Euthanasie? Ich dachte, wir bei der Partei stehen für alle Verlorenen ein?” Auf die Miene des Vorsitzenden tritt ein äußerst verärgerter Zug. “Hüte deine Zunge. Nur Faschisten begehen Euthanasie. Willst du mir etwa sagen, dass unsere Partei der Liebe faschistisch ist? Nein, wir haben nur das große Ganze und das Wohl aller im Sinn. Dass dafür Opfer gebracht werden müssen, ist leider unvermeidlich, so bedauerlich das für den Einzelnen sein mag.” Andreas erschrickt. Um Gottes willen, wenn ich mir den Zorn dieses mächtigen Mannes zuziehe, dann lande ich wieder in der Produktion. Und muss die neuen Ziele erfüllen. “Ich bitte um Verzeihung”, sagt Andreas. “Niemand tut so viel Gutes für die Menschen wie die Partei der Liebe, daran kann es keinen Zweifel geben. Ich habe mich sehr unglücklich ausgedrückt, bitte vergeben Sie mir. Und danke für die Erklärung, nun habe ich es verstanden.”

Thomas ist glücklich. Er war noch rechtzeitig zum Dienst gekommen, und Peter hat ihm in der Mittagspause ein Kunstbutterbrot zugesteckt, das ihm geholfen hat, den Nachmittag einigermaßen über die Runden zu bringen. Jetzt noch Abendessen, sagt sich Thomas, und dann wieder in den Cyberspace und alles vergessen. Mortal Kombat hat mit der neuen Version enorm gewonnen, besonders gefällt Thomas, dass man nun eine Gilde gründen kann und gemeinsam mit Freunden auf die Jagd nach den bösen Terroristen gehen kann. Thomas will es zum Leiter einer Gilde bringen, er freut sich schon darauf, wenn alle seine Freunde ihn dafür bewundern werden. Hastig schlingt er den Madenburger herunter und stülpt sich das Headset über.

Der Vorsitzende ruft ein Menu im Interface auf. So etwas zu denken, ist schon schlimm genug, aber wenn dieser Kerl noch nicht einmal den Mund halten kann, dann ist er bei uns äußerst fehl am Platz. Er wählt den Befehl aus und autorisiert sich.

Als Andreas am Abend den Augenscanner vor seiner Wohnung verwendet, bleibt das Schloss rot. “Bürger BQ-749254-T, die Partei hat dir ein neues Quartier zugewiesen, um deinen Bedürfnissen besser gerecht zu werden. Bitte begib dich umgehend zu den Koordinaten, die dein Hirn-Implantat gerade in dein Sichttfeld einblendet. Du erhältst dort weitere Instruktionen zu deinen neuen Aufgaben. Deine persönliche Habe wird umgehend dorthin geliefert, und vergiss nicht, die Partei hat immer nur dein Bestes im Sinn.” Aber Andreas weiß es auch so, was seine neuen Aufgaben sind, die Koordinaten zeigen in das Quartier der Fabrikarbeiter, und es ist weiter als 15 Minuten zur Fabrik von seiner bisherigen Wohnung, also muss er natürlich umziehen, damit sein Arbeitsweg nicht das Klima vergiftet. Als er sich zum Gehen wendet, singt die KI: “Die Verlorenen sind es nicht mehr, denn die große Partei liebt sie sehr.”

Der Wecker klingelt, und Thomas ist gleich wach. Was für ein wundervoller Abend das gestern war, seine neugegründete Gilde ist gleich auf Platz 127.761 eingestiegen. Da es insgesamt schon am Tag nach dem Update über 3 Millionen neu gegründete Gilden gab, ist das eine großartige Leistung, findet er. Thomas verspürt wieder das Hochgefühl seines Erfolgs, und mit frischer Energie startet er hochmotiviert in den neuen Tag, so viel Spaß hat ihm die Gymnastik schon lange nicht mehr gemacht. Auch das Pflaster vergisst er nicht, aber als er lächelnd den Augenscan benutzt, öffnet sich das Schloss seiner Wohnungstür trotzdem nicht. Thomas kann nicht zur Arbeit. “Bürger CX-261298-A, der Scan hat ergeben, dass du erkrankt bist. Bitte bleibe heute zu Hause, ich informiere deine Arbeitsstelle”, sagt die KI mit freundlicher Stimme.

Jetzt, als die KI ihn darauf hinweist, merkt Thomas, dass er sich tatsächlich ein wenig unwohl fühlt. Seltsam, denkt er. Vorhin ging es mir doch noch so gut. Egal, ich kann in den Cyberspace, viele sind bei der Arbeit, da werde ich mich bestimmt prima hochleveln. Doch als er den Helm aufsetzen will, beginnen seine Ohren zu pfeifen, und erst sieht er alles verschwommen, und dann wird alles schwarz.

Thomas öffnet die Augen. Was war das? Wo bin ich? Aus den Schatten löst sich eine Gestalt und tritt vor ihn hin. Es ist eine wunderschöne junge Frau, doch sie trägt große, glänzende Flügel auf ihrem Rücken. Jetzt weiß ich es, denkt Thomas. Das ist ein neues Level in Mortal Kombat, ich habe es geschafft, ich bin endlich aufgestiegen! “Nein”, sagt der Engel. “Das hier ist kein Spiel. Ich bin ein Bote und begleite dich in die Ewigkeit.” Da versteht Thomas. Er ist gestorben, und was die Partei erzählt hat, stimmt alles gar nicht. Natürlich gibt es Engel und das Leben nach dem Tod, und hier bin ich nun, grübelt er. Aber dann fällt ihn eine Angst an, denn er weiß, er wird jetzt gerichtet werden. “Ach Blödsinn”, sagt der zauberhafte Engel. “Welches Urteil sollte für die Ewigkeit gelten? Nein, ich möchte wissen, was du gelernt hast, und was du besser machen willst.”

Thomas überlegt. “Ich habe alle Vorgaben der Partei befolgt. Ich habe immer mein Bestes getan, so wie es von mir verlangt wurde. Ich weiß nicht, was ich ändern müsste.” Der Engel seufzt. “Schön, du willst nichts anders machen, das habe ich mir schon gedacht. Aber was hast du gelernt?” Thomas fängt zögernd an, von seiner Gilde zu erzählen, aber schon bald findet er keine Worte mehr. Wie sollte ein Engel auch den Cyberspace verstehen?

“Genug”, sagt der Engel. “Diese kindischen Spiele sind nur Zeitvertreib und im Licht der Wahrheit Gottes vollkommen lächerlich. Doch ich anerkenne, dass du ein guter Freund für deine Kameraden im Spiel immer gewesen bist. So oft hast du sie getröstet, und ihnen neue Tricks gezeigt. In deinem Herzen ist doch noch Liebe geblieben, das freut mich. Aber warum hast du ein Leben in Ketten gewählt?”

Mit einem Mal fällt Thomas seine Kindheit wieder ein. Das war vor der Errichtung der Beschützten Stadt, und einmal, da war er mit Mama und Papa an den See gefahren – den See, der heute von Terroristen besetzt ist, wie es die Nachrichten sagen. Und Thomas weiß nicht, warum, aber er beginnt zu weinen. “Was hätte ich tun sollen? Wer den Befehlen nicht folgte, dem ging es schlecht. Und überall hieß es, nur wer der Partei ein treuer Diener ist, der wird mit dem Paradies belohnt, und dass das Paradies auf Erden sei, und jeder es erreichen könne, wenn er nur richtig dient. Und zuerst war es doch auch sehr schön in der Beschützten Stadt, aber die Terroristen haben soviel Ärger gemacht, deshalb mussten die Produktionsziele immer weiter verschärft werden und immer mehr Einsparungen waren nötig. In den Nachrichten wurde doch alles ganz genau erklärt! Also habe ich, wie wohl alle, darauf gehofft, dass die Terroristen endlich besiegt werden können, und es dann wieder so schön wird wie zu Beginn. Alles andere wäre doch verrückt gewesen, verstehst du das nicht?”

Der Engel nimmt Thomas an die Hand und fliegt mit ihm zum See. Da sieht es Thomas mit eigenen Augen. Die haben Kinder dort, die kommen in der Beschützten Stadt doch nur noch aus der Genmanufaktur! Und sie bauen Gemüse an und halten Vieh. Ja, es ist alles furchtbar dreckig und mühsam und man ist in ständiger Gefahr durch die Drohnen der Regierung. Aber die Menschen dort sind frei.

“Es sind Rebellen, keine Terroristen”, sagt der Engel. “Sie gefährden das Meinungsmonopol der Partei, deshalb werden sie so hart bekämpft. Damit denkfaule und feige Leute wie du nicht merken, wie sehr man Euch um das Heiligste betrügt: Um die Freiheit, die dir die Seele Des Universums verliehen hat, als der Samen deines Vaters das Ei deiner Mutter erweckte.” Eine der Drohnen, die dem Lager am See zu nahe gekommen ist, gerät plötzlich ins Trudeln. “Die Freiheit findet immer einen Weg. Die Rebellen haben Jammer konstruiert, mit denen sie die Kommunikation der Drohnen mit der Zentrale stören können”, erläutert der Engel. “Ich finde das sehr lustig. Sie gaukeln der Drohne eine andere Realität vor, und machen mit ihr genau das Gleiche, das die Partei mit Euch tut. Nimm die eigene Medizin, sozusagen.”

Thomas schluchzt nun, als wäre er wieder ein kleiner Junge. “Ich wusste es nicht, warum wusste ich es nicht? Ach, ich würde so gerne auch dort am See leben, aber nun ist es zu spät.” Der Engel legt behutsam einen Flügel um das Häuflein Elend. “Man sagt, der Weg zur Hölle sei mit guten Vorsätzen gepflastert. Aber an guten Vorsätzen ist doch gar nichts auszusetzen – es sind Faulheit und Feigheit, aus denen dieser Weg gemacht ist. Du musst verstehen, wer sich nicht reinen Herzens um seine ihm verliehene Freiheit bemüht, der wird sie verlieren. Denn Freiheit ohne gerechtes Ziel wird zerstörerisch, und zuletzt muss sie sich selbst vernichten.

“Versprich mir, dass du mindestens das lernen willst, dann werde ich ein gutes Wort beim Großen Freund für dich einlegen.” Mit diesen Worten steigt der Engel auf, zu seiner Heimat im Reich der Sterne.

“Wie kann ich es lernen, bitte sage es mir”, ruft Thomas dem Engel hinterher. Doch der Engel antwortet nicht mehr.